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gier, gewinne und moral. aus dem st. galler kirchenboten, oktober 2010

wirtschaftsfaktor luege kirchenbote

Wirtschaftsfaktor Lüge.
Gier, Profite, Halbwahrheiten

In kaum einem anderen Bereich wird so viel gelogen wie in der Wirtschaft. Genauer gesagt, im Interessensverbund von Finanzwirtschaft und Politik. Die Finanzkrise ist das beste Beispiel: Die grassierende Gier hat einige Menschen steinreich und viele andere mausarm gemacht. Die Wahrheit blieb dabei oft genug auf der Strecke. Eine Spurensuche am Wegesrand.

Für das Studium der Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge im Interessengeflecht zwischen Wirtschaft und Politik gibt es kaum ein besseres Beispiel als die schwerste Finanzkrise der vergangenen Jahrzehnte. In der Welt davor gibt es US-Präsidenten, die jedem Wähler, der es hören mag, de facto ein Leben auf Pump versprechen, gar ein eigenes Haus, auch wenn der Lohn dreier Teilzeitjobs gerade mal zum Essen reicht. Es gibt Kreditmakler und Banken, die diese Kredite mit Wonne vergeben, denn die Abschlussprämien sind hoch und die Renditen auch.

Es gibt Mathematiker, die Berechnungssysteme erfinden, mit denen sich Ausfallwahrscheinlichkeiten der Kredite berechnen und die Hypotheken sich dann versichern lassen. Und es gibt US-Präsidenten, die ihren wahlkampfspendenfreudigen Finanzinstituten zuliebe so viele Regeln in der Finanzwelt abschaffen, dass die Banken diese Kredite, von denen eigentlich jeder weiss, dass sie nicht zurückgezahlt werden können, in Anleihen verpacken und weiterverkaufen dürfen, um die Risiken loszuwerden. Es gibt Ratingagenturen, die sich dafür ­bezahlen lassen, diese Anleihen als so sicher zu bewerten, als wären die Hypotheken von Millionären abgeschlossen ­worden. Es gibt dieses grosse Casino, in dem Anleger, andere Banken und Spekulanten aus aller Welt mit diesen Anleihen, den zugehörigen Versicherungen und vielem mehr spielen. Es gibt dort am Tisch auch viele europäische Banken, zum Beispiel kleinere wie die deutschen Landesbanken und grössere wie die Schweizer UBS.

«Schrottpapiere»
Und dann gibt es da noch den 15. September 2008, als der US-Investmentbank Lehman Brothers, einem der ganz grossen Spieler im Casino, das Spielgeld ausgeht und sie die Pleite ­verkündet. Die Weltbörsen brechen zusammen, reale Billi-onenwerte lösen sich in Wohlgefallen auf, die Weltwirtschaft stürzt in eine Rezession, Staaten trudeln an den Rand der Pleite, die gutgläubigen US-Amerikaner mit den drei Teilzeitjobs verlieren zu Zehntausenden ihre überschuldeten Häuser. An jenem 15. September wird dem Letzten klar: Irgendetwas ist nicht ganz so gewesen wie versprochen. Denn auch Lehman Brothers hat von den Ratingagenturen kurz vor dem Fall noch gute Noten bekommen. Auch viele jener Anleihen, Kreditversicherungen und alle möglichen anderen undurchsichtigen ­Finanzprodukte, die findige Mathematiker und Banker aus zweifelhaften Hypotheken gebastelt hatten. Seit dem Fall von Lehman Brothers nennt man sie «Schrottpapiere».

«Wie soll man Lüge definieren?» Walter Wittmann, emeritierter Wirtschaftsprofessor aus Bad Ragaz im St.Galler Rheintal, will mit Blick auf die Finanzkrise nicht pauschal von Lügen und Lügnern sprechen. «Wenn ich wissentlich etwas Falsches verkünde, ist es eine Lüge, ich kann aber auch verschiedene Faktoren optimistisch interpretieren, also Schönfärberei am Rande der Wahrheit betreiben.» Oft, sagt Wittmann, spielten sich Aussagen in der Wirtschaft in der Grauzone dazwischen ab: «Und diese Grauzone explodiert geradezu.»

Für Peter Ulrich, Gründer des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen und inzwischen emeritiert, ist «die Neigung, sich in bestmöglicher Form darzustellen» zunächst etwas ganz Natürliches: «Jeder zeigt gern seine Schokoladenseite, jeder andere weiss das, und deshalb kann man auch damit leben.» Werde jedoch alles «bedingungslos dem Ziel der geschönten Selbstdarstellung» unterworfen, sei es nicht mehr weit zur «kriminellen Wahrheitsverfälschung», sagt Ulrich. Und im Wirtschaftsleben gebe es eine «erhebliche Versuchung», es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen und seit Langem auch eine Art gesellschaftlich-politischen Segen dafür, genau das zu tun.

Selbstentmachtung der Politik
Gemeint ist die Ära des «Neoliberalismus», eingeleitet von der Politik des US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Magaret Thatcher in den 1980er-Jahren. Gewinnmaximierung war fortan die Maxime, die Märkte wurden liberalisiert, der Wirtschaft wurde freie Hand gelassen. Zum «grandiosen ideologischen Begleitgesang» (Peter Ulrich) des Neoliberalismus zählte die Idee, dass es allen gut und der ganzen Gesellschaft am besten gehe, wenn nur jeder nach dem grösstmöglichen Gewinn strebe. Moral und Ethik brauchte es in diesem System nicht mehr, die viel zitierte «unsichtbare Hand des (freien) Marktes» würde es schon richten.

Ulrich spricht von einer «moralischen Enthemmung» der Menschen, einer «institutionellen Entfesselung» der Märkte und von der Selbstentmachtung der Politik im sogenannten Standortwettbewerb: «Es ist wie bei Goethes Zauberlehrling. Man ist eines Morgens aufgewacht und hat gemerkt: ‹Wir ­haben die Kontrolle verloren›», sagt Ulrich. «Die Politik hat ­abgedankt und lässt sich instrumentalisieren durch privat­wirtschaftliche Renditeüberlegungen – der Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Finanzkrise.»

Walter Wittmann würde sich eine Katharsis wünschen. Eine Rückbesinnung auf die Idee, dass der Staat die Regeln für die Wirtschaft setzt und nicht umgekehrt. Wittmann würde der Wirtschaft gern «knallharte» Regeln verordnen. Aber er ist skeptisch. «Anfangs sah es so aus, als würde man etwas aus der Krise lernen, aber die grossen Banken treiben das Spiel längst weiter mit dem billigen Geld der Notenbanken», sagt Wittmann. «Das Umdenken hat nicht stattgefunden. Stattdessen tut man jetzt so, als sei alles überstanden.» Wittmann glaubt übrigens nicht daran: «Es läuft gerade die zweite Phase.»

Zwischen Skepsis und Hoffnung
So bleibe es wohl erstmal bei einer Zweiteilung der Wirtschaft, sagt Wittmann. Dabei, dass jeder Installateur, Bauer und kleine Unternehmer bei der Wahrheit bleiben muss, weil ihm die Kunden davonlaufen, wenn seine Dienstleistungen und Produkte nicht halten, was sie versprechen. Und dabei, dass das Grosskapital und die Spekulanten munter weiter ihre Einsätze im Casino der Finanzmärkte tätigen, in der weitgehend unregulierten Grauzone zwischen Lüge und Schönfärberei am Rande der Wahrheit. «Der Installateur gibt eine Garantie», sagt Wittmann. «Der Spekulant haftet für nichts.»

Peter Ulrich sieht es nicht ganz so schwarz. «Wie der Kampf ausgeht, ist offen: Einerseits gibt es eine starke Tendenz, zum ‹business as usual› zurückzukehren, also weiterzumachen; andererseits glaube ich, dass ein irreversibles Umdenken im Gange ist», sagt Ulrich, dessen Buch «Zivilisierte Marktwirtschaft» gerade in einer Neuauflage erschienen ist. «Der naive Glaube an die ‹unsichtbare Hand des Marktes› ist so tot wie der Kommunismus; und die intelligentere Hälfte der Menschheit ist sich bewusst, dass wir neue Massstäbe und faire Spielregeln für die Wirtschaft brauchen.»

Wolfgang Frey, Azmoos

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