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leseprobepolitik

Von der "Fremdheit im eigenen Quartier": Ostermarsch am Bodensee. Für den Kirchenboten des Kantos St. Gallen, Ostern 2011

ostermarsch friedensweg rorschach «Fremde werden einheimisch»: Ostermarschierer in Rorschach. Foto: Wolfgang Frey

Im Quartier ohne Namen
Ostschweizer Friedensmarsch in Rorschach

«Am gleichen Tisch sitzen und reden, das hilft manchmal schon», sagt Nermin Barman. Gegen die Fremdheit im eigenen Quartier. Gegen die Angst vor Fremden. Gegen den Hass auf Fremde. Dagegen sind am Ostermontag rund 200 Menschen in Rorschach auf die Strasse gegangen. Und haben Menschen wie Nermin Barman getroffen. Sie kennt Angst, Hass – und Hoffnung.

Nermin Barman engagiert sich in diesem Rorschacher Quartier, das nicht mal einen Namen hat. «Industriequartier könnte man es nennen», sagt ihre Mitstreiterin Bea Ziltener. Dann überlegt sie und sagt: «Aber die Industrie ist ja hier auch schon weg.» Nur ein Drittel der 1400 Menschen in dem Quartier zwischen Bahn und Innenstadt hat einen Schweizer Pass. Bea Ziltener verteilt Flyer für das neue «Sprachcafé für Mütter». Zwanglos zusammensitzen, einmal die Woche. Mit Kinderbetreuung. Zu verschiedenen Themen. «Alltägliches: Einkaufen, Kinder in der Schule anmelden, der Umgang mit Behörden», sagt Ziltener. Kleine Schritte im Rahmen des Stadtteilprojekts «Projet Urbain», die etwas bewegen sollen in dem Quartier, in dem zwischen zehn und 20 Nationen leben, so genau weiss Ziltener das nicht, aber das spielt auch keine Rolle.

Eine Rolle spielten die kleinen Dinge, sagt Nermin Barman. Dass viele Leute zum Quartierfest kommen, dass eine Strasse bald verkehrsberuhigt wird, dass die Menschen miteinander reden. Dann erzählt sie den Ostermarschierern eine kleine Geschichte. Von ihr und einer Schweizer Familie. Anfangs habe man sogar etwas Angst gehabt voreinander. Bis man mal gesprochen habe. «Heute ist es so, wenn ich aus den Ferien in der Türkei zurückkomme, bringe ich ihnen etwas mit, wenn sie nach Italien in die Ferien fahren, bringen sie mir etwas mit.»

Der Ostschweizer Ostermarsch, der grösste in der Ostschweiz, stand diesmal unter dem Motto «Fremde werden einheimisch». Organisiert haben ihn zum dritten Mal Kirchen, Parteien und Friedensinitiativen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Die 200 Marschierer dieses «Friedenswegs», wie ihn die Veranstalter nennen, gingen in Rorschach auf Spurensuche nach dem Einheimischwerden. Das geht in Rorschach 45 Prozent der Bevölkerung etwas an. Rorschach ist eine Einwandererstadt mit einer langen Geschichte. Nicht immer wurden Fremde dort heimisch.

Der Historiker Louis Specker erinnert die Ostermarschierer daran, dass Einwanderer oft ausgegrenzt wurden. Vom «Italienerproblem» war die Rede, als viele Italiener aus dem Süden in das industriell aufstrebende Rorschach kamen, um sich in den Stickereien, Giessereien und anderen Fabriken zu verdingen. Mehr als verzehnfacht hat sich die Einwohnerzahl in der Zeit des industriellen Aufschwungs, von 1500 Anfang des 19. Jahrhunderts bis auf 15 325 kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Specker spricht von einer «demografischen Explosion». Sie half mit beim Aufschwung der Stadt; die Italiener bezahlten diesen mit den «miserabelsten» aller Arbeitsbedingungen im Ort. «Dass die Italiener oft Fremde blieben, lag auch an den Schweizern», sagt Specker. «Denn unter diesen kam die Angst auf, die Italiener könnten ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen.»

«Gift für die Integration»

Argumente, die an die gegenwärtige gesellschaftlich-politische Diskussion erinnern. Die greifen die Ostermarschierer in der «Rorschacher Erklärung» auf, die zur Unterzeichnung in der evangelischen Kirche aufliegt. Das Schüren von Angst vor Fremden und Flüchtlingen werde immer wieder zu fremdenfeindlichen Kampagnen genutzt, heisst es da. Diese seien «Gift für die Integration». Der St.Galler Pfarrer Andreas Nufer nennt bei der Abschlusskundgebung in der evangelischen Kirche als aktuelles Beispiel den Umgang mit den Flüchtlingen aus Nordafrika. Angesichts von ein paar Tausend Menschen, die auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa gelandet seien, verbiete es sich geradezu, von einer «Flüchtlingsschwemme» zu sprechen. Und dass die Schweiz das Militär an die Südgrenze schicke, weil an der Grenze zum Tessin 15 Flüchtlinge aus Tunesien gesichtet worden seien, sei geradezu grotesk.

«Ein sprechendes Beispiel»
Paul Rechsteiner, Nationalrat und Prä sident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), erinnert in der Kirche daran: «Auch die Schweiz war einmal ein armes Land, aus dem viele geflüchtet sind.» Wenn die Schweiz heute durch die Industrialisierung ein reiches Land geworden sei, «haben die Migrantinnen und Migranten verschiedener Generationen sehr viel dazu beigetragen». Ge rade Rorschach mit seinem hohen Ausländeranteil, sagt der SP-Mann, sei ein «sprechendes Beispiel dafür».

Mitsprechen dürfen 45 Prozent der Rorschacher bis heute nicht. Die Verweigerung des Stimmrechts sei eine «schwere Beeinträchtigung der Demokratie», heisst es in der «Rorschacher Erklärung». Wer fünf Jahre in der Schweiz lebe und integriert sei, solle das kommunale und kantonale Stimmrecht bekommen. Damit sie nicht nur am gleichen Tisch sitzen, sondern auch mitreden und irgendwann einheimisch werden können.

Wolfgang Frey, Azmoos

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